Die Spitze des Eisbergs?

Die quantitative Erfassung von Fume Events und Lehren, die wir daraus ziehen

von Stefan Thielemann

Im September 2017 nahm unser Verbandsmitglied Arie Adriaensen als Redner an der International Cabin Air Conference in London, einem globalen Forum für Informations- und Meinungsaustausch über die Kabinenluftqualität an Bord von Luftfahrzeugen, teil. Kürzlich erschien sein Artikel „Fragmentation of Information in International Data Gathering from Aircraft Fume Events“[1] basierend auf dieser Rede im “Journal of Health & Pollution” über dessen Inhalt ich einen Einblick vermitteln möchte. Die wissenschaftliche Arbeit analysiert die lückenhafte Datenlage und ihre Auswirkungen auf die Entscheidungsträger in der Luftfahrt sowie der Flugbesatzungen.

Bereits seit Einführung der Zapflufttechnologie, mittels welcher Luft zum Erzeugen des Kabineninnendrucks und zur Klimatisierung aus den Triebwerken entnommen wird, gäbe es Vorfälle, bei denen das Cockpit- und Kabinenpersonal von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bis hin zur Handlungsunfähigkeit an Bord berichteten. Nicht selten lägen die Befunde der technischen Untersuchung betroffener Flugzeuge im Anschluss Spuren von Triebwerksöl oder Hydraulikflüssigkeit im Kabinenluftsystem offen [2-6].

Gleichwohl gäbe es bis heute keine globale Datenbank zur Erfassung sogenannter Fume Events, weshalb gesicherte Erkenntnisse über die Dimension des Problems kaum vorlägen und Untersuchungen zu toxikologischen Auswirkungen erschwert würden. Darüber hinaus seien Berichte der den Flugunfalluntersuchungsbehörden jeweiliger Länder gemeldeten Ereignisse in der Regel nicht öffentlich zugänglich und außerdem würden vorhandene Daten interner Analysen der Hersteller und Fluglinien nicht geteilt.

Der Autor resümiert, dass das branchenübergreifend anerkannte und respektierte “share-your-experience”-Prinzip der Luftfahrt im Bereich der Fume Events unter einem Phänomen leidet, welches in der Wissenschaft als “organization without a memory” bezeichnet wird. Organisatorische Barrieren verhindern das institutionsübergreifende Speichern und Verarbeiten der bereits gesammelten Erfahrungen.

Trotz der erwähnten Hürden zur Datenerfassung konnten für diese wissenschaftliche Arbeit 55 Untersuchungsberichte verschiedener Behörden aus dem Zeitraum 1996 bis 2017 ausgewertet werden. In 27 Fällen wurde das Vorhandensein von Triebwerksöl oder anderen luftfahrtspezifischen Flüssigkeiten (Hydrauliköl, De-icing fluid) festgestellt. Das bedeutet, in annähernd der Hälfte der untersuchten Vorkommnisse kam es nachweislich zu Leckagen bzw. Verunreinigungen des Kabinenluftsystems.

Hervorzuheben ist: Viele dieser Untersuchungsberichte legen offen, die betroffenen Hersteller hatten zum Zeitpunkt Kenntnis von hunderten weiteren dokumentierten Zwischenfällen, die bis dato in keiner anderen Datenbank oder Untersuchung Erwähnung faden.

Zwei Beispiele werden gegeben:

2001 hält die schwedische “Statens haverikommission” [7] fest:

“The aircraft manufacturer continuously follows-up submitted reports of disturbances from operators of the BAe 146 type of aircraft. The following information has been provided by the manufacturer. During the period from June–92 until January-01 a total of 22 cases were reported where the flight crew’s capacity had been impaired. Of these, seven have been judged as serious since they affected flight safety negatively. During the period from January-96 until September-99, 212 reports were submitted by a specific airline to the aircraft manufacturer concerning tainted cabin air. Of these, 19 reports concerned the impairment of the crew’s capacity. Seven of the reports were submitted directly by the crewmembers. From another 36 operators of the aircraft type a total of 227 occurrences relating to contaminated cabin air were reported during the period from May-85 until December-00. Of these, 11 reports concerned the impairment of the crew’s capacity”.

2007 schreibt die britische “Air Accidents Investigation Branch” [2] (AAIB):

“A search of the CAA database revealed that in the three-year period to 1 August 2006 there had been 153 cases of fumes, abnormal odor or smoke or haze in the flight deck and/or cabin of UK registered public transport aircraft of various types. Details on a number of the cases were limited but the available information suggested that around 119 of the cases had probably resulted from conditioned air contamination. This had commonly been caused by oil release from an engine, APU or air conditioning unit or ingestion of de-icing or compressor wash fluid by an engine or APU, with consequent smoke and/or oil mist in the conditioned air supply to the fuselage. It appeared that in many of the cases the crew members had found it difficult or impossible to establish the source of the contamination.”

Doch der Artikel stellt die Fallzahlen der offiziellen Untersuchungsberichte auch anderen Datenquellen gegenüber. Eine Abfrage der Datenbank meldepflichtiger Ereignisse in der Luftfahrt der britischen AAIB [8] habe 37 bestätigte Fälle von Triebwerksleckagen und weitere 26 Fälle überfüllter Ölreservoirs in Hilfsturbinen (APUs) oder Triebwerken von insgesamt 227 Fällen mit Verdacht auf Fume Event unterschiedlichen Schweregrads von 2001 bis 2005 ergeben. Innerhalb von fünf Jahren habe die AAIB allein mehr nachgewiesene Fälle verunreinigter Kabinenluft erfasst als weltweit durch die Flugunfallbehörden aller Länder über mehrere Jahrzehnte untersucht worden seien.

Auch in Deutschland scheint es eine Diskrepanz zu den offizell gemeldeten Zahlen zu geben. Die “Studie über gemeldete Ereignisse in Verbindung mit der Qualität der Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen” [9] der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) deckt einen Acht-Jahres-Zeitraum von 2006 bis 2013 ab. Dabei wurden 659 Events dieser Kategorie identifiziert. Nur in 50 Fällen stand die vom Luftfahrzeugbetreiber gemeldete Ursache in Zusammenhang mit Überfüllungen oder Leckagen von Triebwerksöl oder Eindringen von Enteisungsflüssigkeit.

Die interne Auswertung einer mittelgroßen deutschen Fluglinie umfasste 167 Einträge in technischen Logbüchern der Flotte, die Beanstandungen über verunreinigte Kabinenluft enthielten und innerhalb von 18 Monaten aufgenommen und ausgewertet wurden. Die Flugzeugwartung stellte bei 58 Events Ölrückstände im Zapfluftsystem fest, in weiteren 79 Fällen wurden die Herstellervorgaben für die Ursachenanalyse nach einem Fume Event nicht befolgt, sodass die Quelle der Beeinträchtigung nicht ermittelt werden konnte. Somit trat allein bei einer einzigen deutschen Airline in einem Zeitraum von 1,5 Jahren eine höhere Anzahl triebwerksölbedingter Verunreinigungen der Kabinenluft auf als die Gesamtzahl der über acht Jahre an die BFU gemeldeten Fälle der deutschen Luftfahrtindustrie. Der Zeitpunkt dieser Auswertung, das Jahr 2009, fällt in die Periode der BFU-Studie und müsste demzufolge auch sämtliche dieser Ereignisse beinhalten. Es bleibt unklar, wie viele der erwähnten “Findings” der Airline an die BFU gemeldet wurden. In jedem Fall würden sie die statistische Signifikanz von Triebwerksölleckagen als Ursache für die von der BFU erfassten Fälle verunreinigter Kabinenluft massiv verändern. Ob die vorliegenden Zahlen der BFU-Studie also eine valide Aussagekraft haben, sei fraglich.

Das aus Fume Events entstehende Risiko für die Flugsicherheit und die Gesundheit ist nicht vernachlässigbar. Die Arbeit zeigt auf, dass der schwierige Zugang zu bereits erhobenen Daten aber auch die generell eher lückenhafte Erfassung vermuten lassen, der genaue Umfang der Kabinenluftproblematik wird eher unterschätzt. Als erstes Glied in der Informationskette sind auch wir an dieser Stelle gefragt.

Der Autor kommt ferner zu dem Schluss, dass die aus Untersuchungsberichten gewonnenen Erkenntnisse, dem Prinzip “share-your-experience” folgend, besser an die Pilotenschaft kommuniziert werden müssten.

Das Zurückhalten der Lehren aus diesen Untersuchungen beeinflusse nicht nur das Handeln der Pilotinnen und Piloten, sondern habe auch Auswirkungen auf die Regulierungsbehörden. Diesen wird empfohlen die Bandbreite ihrer Informationsquellen für Entscheidungsprozesse zu erweitern und bei eventuellen Diskrepanzen wachsam zu sein.

Der vollständige Artikel steht in englischer Sprache unten als PDF zur Verfügung.

Quellen:

  1. Adriaensen, A., ‘Fragmentation of Information’ in International Data Gathering from Aircraft Fume Events in Conference Proceedings, Sessions presented at the 2017 International Aircraft Cabin Air Conference 19-20 September 2017. J Health Pollution, 2019. 24.
  2. AAIB, Report on the Incident to BAe 146 G-JEAK during the descent on Birmingham airport on 5 November 2000. 2004, Air Accidents Investigation Branch, Department for Transport, United Kingdom: UK.
  3. Montgomery, M.R., et al., Human intoxication following inhalation exposure to synthetic jet lubricating oil. Clinical Toxicology, 1977. 11(4): p. 423-426.
  4. Swiss Federal Department of Transport, Investigation Report concerning the serious incident to aircraft AVRO 146-RJ 100, HB-IXN operated by Swiss International Air Lines Ltd. under flight number LX1103 on 19 April 2005 on approach to Zurich-Kloten Airport. 2006, Federal Department of Environment, Transport Energy and Communications: Bern.
  5. ATSB, British Aerospace Plc BAe 146-100, VH-NJX. Occurrence brief no. 200205865. 2003, Australian Transport Safety Bureau: Canberra, Australia.
  6. GPIAA, Air Incident Investigation – Final Report Airbus A-330-322, CS-TMT. 2009, Gabinete De Prevenção E Investigação De Acidentes Com Aeronaves.
  7. SHK, Incident onboard aircraft SE-DRE during flight between Stockholm and Malmö, M county, Sweden, on 12 November 1999. 2001, Statens haverikommission (SHK) Board of Accident Investigation: Stockholm, Sweden. p. 36.
  8. CAA, UK, CAA Mandatory Occurrence Reporting (MOR) - Engine Oil Fume Events – UK AOC Aircraft. 2011. p. 91.
  9. BFU, Studie über gemeldete Ereignisse in Verbindung mit der Qualität der Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen. 2014, German Federal Bureau of Aicraft Accident Investigation.

Fragmentation of Information in International Data Gathering from Aircraft Fume Events (PDF)

  • 3,76 M